Baga-Tell-O
2004 wurde die Cheernagel-Büüni volljährig: 20!
Zu diesem Anlass schrieb uns Roland Moser eine neue Fassung der Tell-Sage, die auch gerade zum Schiller-Jubiläum passte. Aber mit Roland Moser ist es so eine Sache: Seine Interpretation der Tell-Geschichte ist - gelinde gesagt - etwas eigenwillig (Am Ende dieser Seite finden Sie einige Gedanken dazu):
Aber sei's drum - für unser Publikum und uns selber war's ein höchst vergnüglicher Abend!
Abgesehen davon war es eines unserer aufwendigsten Bühnenbilder. Eine kleine Kostprobe: Die Kartonschachteln, in denen die VOLG-Filialleiterin Maja ihre Snack-X-Riegel mitbrachte, türmten sich nach und nach zu einem markanten Berg auf:
Die Mitwirkenden
Auf der Bühne
Hinter der Bühne
Zum Stück:
Mit TELL los
Mittelllos ist die Theatergruppe ja nicht gerade, die wir da bei der Stückwahlsitzung antreffen, aber dass sie sich ausgerechnet den berühmtesten, wichtigsten und umstrittensten Regisseur leisten würden, das hätte auch Vereinspräsident Dr. Kurt Bieri nicht für möglich gehalten.
Die Galeristin Elvira Klotzky hat sich aber noch immer durchgesetzt, und so sehen sich die eigentlich eher braven Schauspieler plötzlich vor einem grossen Abenteuer. Richard von Matt, der grosse Regisseur, wird mit ihnen zusammen ein Stück einstudieren, und zwar nicht einfach etwas wie bisher immer ("S verflixte Hösli" oder so), sondern nichts mehr und nichts weniger als Wilhelm Tell.
Nach der ersten Leseprobe ist es dann allerdings nicht immer klar, ob die eigenwillige Interpretation des Regisseurs dem Stück letztlich nicht doch zugute kommt, jedenfalls haben die Schauspieler mit dem Original genauso viel Mühe wie mit den Änderungen, und ob sich Elvira Klotzky auch künftig wieder so ins Zeug schmeissen wird, ist auch unsicher.
N.B: Ob nun eine Subvention durch Pro Helvetia zu stande kommt oder nicht, ist nach wie vor offen, aber das Stück macht doch die Entscheidungsprozesse etwas klarer ...
Mein Senf
Die Versuchung liegt nahe, aus dem "alten, verstaubten Schiller-Drama" noch ein paar billige Lacher zu quetschen. Zum Glück hat ihr Roland Moser nicht kampflos nachgegeben. Die Tell-Sage, die im zweiten Teil des Abends gezeigt wird, ist (mit den Worten des Promi-Regisseurs) ent-krustet. Wie aber erzählt man ein Helden-Epos, wenn man es sprachlich und inhaltlich auf unsere heutige Welt reduzieren will? Die Aussage in von Matt's Tell ist noch immer die selbe wie bei Schiller: Es sind die Eidgenossen, die sich unter dem Druck der österreichischen Besatzung zusammen getan und ihre Freiheit erkämpft und verteidigt haben. Nur sind's bei Roland Moser keine "Schiller-Kunstfiguren", die in wohlgesetzter Rede und frisch shampoonierten, wehenden Haaren und wallenden Gewändern ihren Rütlischwur leisten, eher erinnern sie an unsere wackeren Schweizer Wehrmänner, die, wenns denn eben sein muss, auch in den sauren Apfel beissen und zur Waffe greifen. Menschliches wie Hunger, Durst und die eigene Bequemlichkeit sind ihnen nicht fremd, und manchmal kann man sie auch nicht so recht ernst nehmen, aber in der ganzen, grotesken Inszenierung hat der Rütlischwur seine zentrale Stellung, und die Übersetzung seines Textes in unsere Mundart hat Roland Moser mit grosser Behutsamkeit vorgenommen.
Aber wo steckt Tell? Um seine Figur rankt sich doch die ganze Legende. BagaTELLo beantwortet auch die Frage, wie es denn gewesen wäre, wenn Tell gar nicht existiert hätte: Überhaupt nicht anders. Denn im eigentlichen, Schiller'schen Sinn ist Tell austauschbar: ein Vertreter dieses Volkes, in dem jeder eigentlich am liebsten in Ruhe gelassen und seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen möchte. Und wenn's dann eben nicht Tell selber ist, dann kann jede beliebige andere Figur einspringen, denn wie ihm geht's allen: sie werden dazu gezwungen, Farbe zu bekennen, und die helvetischen Mannen haben sich nicht umsonst über Jahre hinweg "Tellensöhne" genannt: in ihnen allen schlummert diese Veranlagung. Kein Wunder, dass man dasselbe auch für unsere Frauen reklamieren kann, und Roland Moser zeigt hier, dass man weit herum suchen kann: bis zu Hedwig Tell, der alleinerziehenden Dorfnutte, in der das Zeug zur Heldin genauso drinsteckt wie in allen andern auch.
Wer Mosers Stück über längere Zeit kennen lernt, wie das während der Proben zwangsläufig passiert, der staunt über die vielen Parallelen und Details, die mit Schillers Original übereinstimmen. Es ist verblüffend, wie nahe man am Original bleiben kann, auch wenn man ausgerechnet die Titelfigur weg lässt.
Roland Moser bettet diese seine Tell-Sage in den Produktionsablauf einer biederen Theatergruppe ein, für deren Alltag die Zusammenarbeit mit einem berühmten, skandalumwitterten Regisseur auch ein ganz besonderes Ereignis wird. Dies gibt ihm die Gelegenheit, die Welten des Laien- aber auch des professionellen Theaterbetriebs, die er beide aus der Praxis bestens kennt, mit spitzer Feder zu zeichnen. Dabei zeigt sich auch, wie solche Bearbeitungen zu Stande kommen und welches Engagement hinter ihnen steckt. Und es erklärt letztlich auch Erfolg oder Scheitern der Aufführung.
Andreas Fischer
April 2004